Sonntagskolumne: «Wer Anzeige erstattete, erlebte nur teilweise eine sachliche Reaktion der Polizei»

Die Progress Pride-Flag auf dem Dach des Sitzes des Berner Stadtpräsidenten

Am letzten Mittwoch haben Pink Cross, das Transgender Network Switzerland und die Lesbenorganisation Schweiz den Hate Crime Bericht 2023 der LGBTIQ-Helpline veröffentlicht. Gedankensplitter 

Schlagzeilen zum neusten Bericht zu LGBTQ-feindlichen Hate Crimes in der Schweiz in den Zeitung:

  • Zahl der Gewalttaten gegen LGBTIQ-Community hat drastisch zugenommen
  • Attacken gegen LGBTIQ-Menschen erreichen in der Schweiz einen Höchststand
  • Viel mehr Angriffe auf LGBTIQ-Personen
  • Meldungen von Angriffen und Diskriminierungen auf LGBTIQ-Menschen haben in der Schweiz einen neuen Höhepunkt erreicht

Ich lese im Bericht. Und ich lese, dass fast drei Hate Crimes pro Woche der LGBTIQ-Helpline gemeldet werden – und die Dunkelziffer riesig ist.

  • Die Anzahl der gemeldeten Vorfälle steigt um fast 50 Prozent auf einen neuen Höchststand.
  • In etwa 80 Prozent der Fälle wurden erlebte oder beobachtete Beschimpfungen gemeldet. Fast 20 Prozent der Meldenden erlitten körperliche Gewalt.
  • Mit knapp einem Drittel der Fälle sind und bleiben trans Personen übermässig stark betroffen.
  • Die meisten Hate Crimes wurden im öffentlichen Raum (34 Prozent) oder im öffentlichen Verkehr und an Haltestellen (20 Prozent) verübt.
  • Junge Menschen sind besonders betroffen – rund zwei Drittel der Meldenden sind unter 30 Jahre alt.
  • Die meisten Meldenden (80 Prozent) schätzen ein, aufgrund ihrer tatsächlichen oder angenommenen sexuellen Orientierung Opfer von Hate Crimes geworden zu sein. Zudem geben 42 Prozent ihr Geschlecht, beziehungsweise ihre Geschlechtsidentität als möglichen Beweggrund an. In einem Drittel der Fälle (31 Prozent) zeigt sich ausserdem der Geschlechtsausdruck als massgebend.

Schreckliche Tatsachen, die traurig machen. Wütend macht mich aber gleichzeitig die Tatsache, dass nur gerade 11 Prozent der Hate Crimes bei der Polizei angezeigt wurden. Und wer Anzeige erstattete, erlebte nur teilweise eine sachliche Reaktion der Polizei – ein Drittel der Meldenden berichtete von Herablassung und Spott.

Viele Meldende geben in ihren Beschreibungen der Vorfälle an, dass sie durch ihre Sichtbarkeit als queere Personen angegriffen wurden. Häufig zeigt sich dabei, dass Tatpersonen auf Verhalten und Äusseres reagieren, dass von einer cis-heterosexuellen Norm abweicht oder nicht stereotypen Geschlechterrollen entspricht.

  • Hate Crimes haben nicht nur für die direkten Opfer teils schwerwiegende physische und psychische Folgen, sondern treffen die gesamte LGBTQ-Community.

Studien zeigen, dass die Reaktionen von LGBTQ-Personen, insbesondere wenn eine ihnen bekannte Person angegriffen wurde, sehr ähnlich sind wie die der direkten Opfer: Sie fühlen sich verletzlicher, ängstlicher und sind auf die Tatpersonen wütend. Hate Crimes werden auch als Attacken gegen die Community empfunden, sind nicht nur Taten gegen Einzelpersonen.

Feindliche Grundstimmung gegen trans und nichtbinäre Personen

In den letzten Monaten werden die Existenzberechtigung und die elementarsten Rechte von trans Personen und ganz besonders von nicht binären Personen zunehmend öffentlich und in erschreckender Weise in Frage gestellt. Dass sich auch die Medien und Politiker*innen aktiv daran beteiligen, diesen Nährboden für Gewalt und Diskriminierung zu bereiten, ist absolut inakzeptabel. Denn diese feindliche Grundstimmung wirkt sich fatal auf die Sicherheit und die psychische Gesundheit von trans Menschen aus, wie die Zahlen leider deutlich zeigen.

Die WOZ zitiert in der aktuellen Ausgabe die Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach, die sagt, dass es an der kritischen Öffentlichkeit sei, darüber aufzuklären, «dass das Genderthema nicht extrem ist, sondern dass es um den in der Verfassung verankerten Schutz von Grundrechten und vor Diskriminierung geht».

Aus der WOZ vom 18. Mai 2023: «Die SVP-Stimmungsmache gegen alles, was die vielfältige, aufgeklärte Gesellschaft repräsentiert – und insbesondere gegen trans Menschen –, reiht sich ein in einen neuen Kulturkampf der globalen Rechten. Roger Köppel hielt erst Anfang Mai an der CPAC-Konferenz in Budapest – dem grössten internationalen Treffen der reaktionären Rechten – eine Rede. in der er «den Woke-Virus» als «Krankheit der Eliten» bezeichnete. Vorbild für die SVP, die sich den Kampf gegen den «Gender-Terror und Woke-Wahnsinn» Anfang Jahr ins Parteiprogramm geschrieben hat, sind neben autokratischen Politikern wie Viktor Orbän oder Wladimir Putin insbesondere die Republikaner*innen in den USA

«Hunderte unterstützen Lesestunde»

Nach der Veröffentlichung des aktuellen Berichts zu LGBTQ-feindlichen Hate Crimes in der Schweiz twitterte SVP-Nationalrat: «Wegen 134 Fällen einen Bericht zu drucken, Presseklamauk zu veranstalten und von #hatecrime zu sprechen, ist angesichts der 46‘687 Gewalttaten in der Schweiz 2022 etwas übertrieben». Da stimmt die Schlagzeile im Tages-Anzeiger versöhnlicher: «Hunderte unterstützen Lesestunde». Die gestern in Zürich-Oerlikon durchgeführte Lesestunde eines Drag Kings für Kinder musste unter Polizeischutz stattfinden, da gegen die Veranstaltung von rechten Gruppierungen und Politiker*innen gehetzt wurde. Die SP Zürich 11 rief zum «Widerstand» gegen die Demonstrierenden auf, weit über 100 Sympathisant*innen folgten dem Aufruf.

Diskussion

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.