Am Freitagvormittag hat der Bundestag – 78 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz – in seiner jährlich stattfindenden Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus erstmals an verfolgte sexuelle und geschlechtliche Minderheiten erinnert.
Bundesratspräsidentin Bärbel Bas (SPD) betonte in ihrer Rede, dass nicht nur schwule Männer unter dem von den Nazis verschärften Paragrafen 175 leiden mussten, sondern die gesamte queere Community. Und das Ende des Nationalsozialismus habe «kein Ende der staatlichen Verfolgung» bedeutet. Aus heutiger Sicht klinge es «unglaublich», dass der Paragraf in der Bundesrepublik Deutschland noch bis 1969 unverändert gültig blieb – und erst 1994 gestrichen wurde.
Die zweite Rednerin war die 80-jährige Holocaust-Überlebende Rozette Kats. Sie überlebte nur, weil ein Ehepaar aus Amsterdam sie als ihr eigenes Kind ausgab. Ihre leiblichen Eltern wurden in Auschwitz ermordet.
Die Erfahrungen, sagte Rozette Kats, die sie als kleines Kind gemacht habe, hätten vor und nach 1945 auch viele Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität erlebt. «Es macht Menschen krank, wenn sie sich verstecken und verleugnen müssen», betonte Rozette Kats. So habe es auch bei verschiedenen Opfergruppen lange Zeit Vorbehalte gegeneinander gegeben. Bei mancher Gedenkveranstaltung habe noch vor wenigen Jahrzehnten gegolten, dass nicht an homosexuelle Männer erinnert werden sollte. Aber es sei falsch, Menschen in Kategorien von mehr oder weniger «wertvoll» einzuteilen. Das bedeute am Ende, «dass die nationalsozialistische Ideologie weiterlebt».
Sehr eindrücklich waren auch die von den Schauspieler*innen Maren Kroymann und Jannik Schümann gelesenen Texte. Die vom Historiker Lutz van Dijk verfassten Texte erinnerten an Mary Pünjer (1904–1942) und Karl Gorath (1912–2003). Mary Pünjer wurde in eine jüdische Familie geboren und 1940 als verheiratete Frau unter dem Vorwand, sie sei eine «Lesbierin» festgenommen. Zwei Jahre später ist wurde sie in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg ermordet. Erstmals verhaftet wurde Karl Gorath 1934 mit 22 und nach Paragraf 175 verurteilt. 1938 erfolgte eine weitere Verurteilung, 1943 kam er ins KZ Auschwitz. Er überlebte – nach dem Krieg ging die Verfolgung aber weiter und er kam wieder ins Gefängnis.
Dass er diese Rede vor dem Bundestag halten könne, sei nicht selbstverständlich, sagte Klaus Schirdewahn: «Noch vor wenigen Jahren war ich tief in meinem Inneren so verunsichert, versteckte mich, schämte mich meiner Gefühle, war immer auf der Hut, nur ja nichts Falsches zu sagen, nur nichts von meinen Gefühlen zu erkennen zu geben.» Weil er 1964 als Siebzehnjähriger nach Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches wegen der Liebe zu einem anderen Mann schuldig gesprochen wurde, habe er bis vor fünf Jahren als vorbestraft gegolten. Zwar wurde 1994 der Paragraf abgeschafft, die Schuldsprüche wurden aber erst 2017 aufgehoben. «Wir waren mit unserer Lebensweise noch nicht willkommen … zu sehr wirkte das Gift des nationalsozialistischen Menschen- und Familienbildes in Geist und Köpfen noch nach.» Das «Wir» seien nicht nur schwule Männer, sondern auch lesbische Frauen, bisexuelle, trans und intergeschlechtliche Personen gewesen. «Für uns alle war das Dritte Reich noch nicht zu Ende», zitierte Klaus Schirdewahn den Historiker Hans-Joachim Schoeps.
Die einzige Möglichkeit, im Jahr 1964 eine Freiheitsstrafe abzuwenden, sei für Schirdewahn gewesen, eine Therapie zu beginnen, die ihn von seiner Homosexualität «heilen» sollte. Diese Therapie habe ihm seine Gefühle, seine Lebensweise, seine Identität, sein Wesen abgesprochen und ein Doppelleben aufgezwungen. «Ich versuchte, nirgendwo anzuecken, es allen recht zu machen.»
Doch seine Gefühle liessen sich nicht abstellen oder unterdrücken. Durch die jahrelange Arbeit von Aktivist*innen und Vorbildern ermutigt, habe er sich schliesslich entschlossen, sich als schwuler Mann öffentlich zu zeigen. «Dies war eine Befreiung, nach der ich zum ersten Mal das Gefühl hatte: Ich bin Ich!»
Quelle: Webseite Deutscher Bundestag