Ich der «Stubenhocker» – der stolze Schweizer!

Eine weitere Woche im Lockdown geht zu Ende. Als «stinknormaler» Bürger dieses Landes halte ich mich natürlich weiterhin strikte daran, was uns da verordnet wurde. Und obschon der Lockdown um eine Woche verlängert wurde, würden wir «ein Licht am Ende des Tunnels sehen», sagte ein ernstguckender Mensch diese Woche im Fernsehen!

Es müsse ein Ruck durch die Bevölkerung gehen, lautete die unmissverständliche Aufforderung an die Bevölkerung Mitte März. Und die meisten Menschen hielten sich an die verordneten Einschränkungen. «Darauf könne die Schweiz stolz sein», sagte ein anderer ernstguckender Mensch ebenfalls im Fernsehen. Ich der «Stubenhocker» – der stolze Schweizer! Trotzdem schlafe ich nicht besonders gut. Die Kurve der positiven neuen Corona-Tests in der Schweiz flacht ab und die Kurve der Anzahl Arbeitslosen könnte umso heftiger steigen. «Bis zu sieben Prozent Arbeitslosigkeit könnten Realität werden», sagte ein weiterer ernstguckender Mensch im Fernsehen.

Heute habe ich keine Zeit, um «fern» zu gucken: Ein ereignisreicher steht an. Mein Freund und ich wollen heute Abend die Grillsaison eröffnen. So werde ich mich zum Grossverteiler wagen und was Leckeres für den Grill besorgen. Und in der Apotheke sollte ich Tabletten kaufen, damit ich den Grillabend auf dem Balkon nicht mit niesender Nase und mit tränenden Augen verbringen muss.

Die vergangene Woche war aber trotz Lockdown und Pollen erfreulich verlaufen.

Die virtuelle Plauderrunde von hab queer bern lockt jeweils am Dienstag und am Donnerstag rund zehn Menschen an und ich sehe altbekannte – aber auch neue Gesichter. Als Moderator dieser Runde stelle ich immer wieder fest, wo der Schuh drückt. In einer der Plauderrunden wollten wir über unsere Lieblingsbücher sprechen und landeten bei unseren Coming-out-Geschichten und bei der Politik. Und am vergangenen Donnerstag wollten wir über Osterbräuche sprechen und landeten ebenfalls bei der Politik.

Gefreut hat mich auch die Lancierung einer neuen App der Milchjugend: Die «Milchstrasse» soll ein Universum voller junger Queers werden, wo sie sich kennenlernen, vernetzen und austauschen können. «Gerade für junge Menschen sind Onlineräume zentral, um sich – auch vor einem Coming-out – zu vernetzen und eine unterstützende Gemeinschaft zu finden», ist sich Kathrin Meng, Geschäftsführerin der Milchjugend, sicher. Stimmt, denke ich, in Zeiten des Coronavirus sowieso. Und zur Finanzierung der App habe ich ein paar Franken locker gemacht.

Als nahezu 60-jähriger Schwuler beobachte ich die Tätigkeiten der Milchjugend mit einer gewissen Bewunderung.

Meine ehrenamtliche Arbeit für hab queer bern und für die BEGEGNUNG SCHWULER MÄNNER zeigt mir nämlich, dass auch die queere Generation über 60 Zugänge zu sicheren Räumen braucht. Die Generation zwischen 30 und 60 verbringt viel Zeit, die Karriereleiter hochzuklettern. Aber nach der Pensionierung werden plötzlich Ängste vor Einsamkeit wach. Orte, wo wir Zugehörigkeit erfahren, gemeinsam etwas unternehmen können und Impulse zur Gestaltung unserer Freizeit finden, sind plötzlich wieder wichtig. Jahrelang hat meine Generation für ein selbstbestimmtes und selbstbewusstes Leben gekämpft. Aber können wir auch in Alterseinrichtungen dieses Leben weiterleben?

Eine im März dieses Jahres veröffentlichten Ergebnisse einer Umfrage der Fachgruppe Alter der LGBTIQ-Organisationen ergab folgendes Fazit:

Die LGBTIQ-Menschen wollen mit ihren spezifischen Bedürfnissen, in ihrer Menschenwürde, ihrer gesamten Lebensgeschichte und ihrem Wesen respektiert, aufgenommen und entsprechend behandelt, betreut und gepflegt werden. Auch im Alter wollen sie zu sich stehen können und so akzeptiert werden.

Die Milchjugend ist laut, bunt und entschuldigt sich nicht für ihr «Anderssein». Queere Identität wird gefeiert und nicht als Problem behandelt. Diese Einstellung nehme ich mir als Vorbild – im Wissen, dass auch meine Generation Jugendliche als Vorbilder haben kann und in der Hoffnung, dass die Jugend dies von uns «alten» Menschen gelernt hat.