Vor 50 Jahren kam es in New York zum Stonewall-Aufstand, der neun Jahre später auch die Schweiz erreichte und Schwule und Lesben den ersten CSD feierten. Aber nur wenige wissen (noch), dass es bereits vier Monate nach Stonewall hier in der Schweiz zu einem offenen Widerstand kam. Erzählt hat die eindrückliche Geschichte der Verein schwulengeschichte.ch vor kurzem in einem Newsletter …
Im September 1969 vermelden die Zeitungen in der Schweiz die Verhaftung des 17-jährigen Didio Schultheiss, der «dringend des Mordes am 35-jährigen homosexuell veranlagten Holländer Jacobus Hermann de Mul verdächtigt wird». Und offenbar war auch noch ein zweiter Jugendlicher in die Tat verstrickt. Dazu schrieb die Zeitung «Die Tat» am 25. September 1969: «Unabhängig von den Ereignissen dieser Befragung muss doch wieder einmal mit aller Deutlichkeit festgestellt werden, dass die beiden Jugendlichen wegen der anormalen Veranlagung eines Erwachsenen in ein scheussliches Verbrechen verstrickt wurden». Das Opfer sei Mitglied eines holländischen Homosexuellenklubs und «nachdem er über zehntausend Franken zwecks Erwerbes von Wertpapieren» auf einer Bank deponiert habe, «begab er sich abends auf die Strichplätze».
Und einen Tag später – am 26. September 1969 – schrieb die Zeitung: «Die beiden Burschen suchten – vielleicht auch in Geldnot geraten – ein Abenteuer, begaben sich auf einen offiziellen Strichplatz, liessen sich von diesem Mann auf sein Zimmer einladen und wurden vom abartigen Tun des Homosexuellen derart angeekelt, dass diese schliesslich eine Tat begingen, deren Schwere sie im Moment gar nicht abwägen konnten».
Nach diesem «weiteren Mord im Zürcher Schwulenmilieu» wiederholte sich anfänglich, was Anfang 1958 nach zwei solchen Morden begann: eine Medienhetze, die eine Welle von Repressionen mit Razzien und Diffamierungen gegen alle Homosexuellen auslöste . Für gewisse Zeitungen war dieser neue Mord im Schwulenmilieu eine Art Glücksfall. Sie hatten sich ans billige Schüren von Sensationen gewöhnt. Ähnlich wie jene Zeitungen dachte auch eine als Mitte-Partei geltende politische Gruppierung – der Landesring der Unabhängigen. Die 1936 von Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler gegründete Partei würde mensch heute wohl als «populistisch» bezeichnen. Diese Partei hoffte nach dem Mord auf Erfolg, wenn sie verstärkten Jugendschutz und aktive Bekämpfung der «Homosexuellen-Seuche» fordern würde. Auf den 29. Oktober 1969 war eine öffentliche Veranstaltung des Landesrings in Zürich angesagt. «Zürich – Weltzentrum der Homosexuellen» hiess es auf der Einladung, mensch erwarte «energisches gesetzmässiges Handeln». Und es sollte eine Petition lanciert werden. Es kam allerdings anders.
Es war am 29. Oktober 1969. Die Versammlung des Landesrings wird eröffnet. Auf schwulengeschichte.ch steht zum Geist dieser Veranstaltung folgendes geschrieben:
… Nicht die Strichjungen, sondern die Homosexuellen sind die Promotoren des Verbrechens. … Die Entschuldigung der «natürlichen Veranlagung» gilt nur für den kleinsten Teil der Homosexuellen. Allen übrigen kann zugemutet werden, ihren Trieb zu beherrschen. … Die einschlägigen Lokale sind zu schliessen, sofern Jugendliche dort verkehren. Die Kirche darf keine faulen Kompromisse mit den Homosexuellen schliessen, da dies dem Evangelium widerspräche. …
Ein erster Redner an diesem Abend wurde als «Vertreter der Elternschaft» angekündigt. Dieser war sich sicher, dass die Jugend «ständig durch die Homosexuellen bedroht sei», die einschlägigen Treffpunkte «Brutstätten der Homosexualität» seien, in denen «Verbrechen vorbereitet» würden und deshalb geschlossen werden müssten.
Doch während der lebhaften und ausführlichen Diskussion mit dem Publikum meldeten sich auch Schwule zu Wort. Sie gaben sich zu erkennen und erklärten, wie wichtig eine unverkrampfte, offenere Gesellschaft wäre. Auf viele der geäusserten Fragen und Ängste gaben sie Antworten und lösten damit Vorurteile auf. Ihre Sichtbarkeit als «ganz normale» homosexuelle Mitmenschen und die Sachlichkeit ihrer Voten änderte die Stimmung im Saal.
Das Sprachrohr des Landesrings der Unabhängigen war die Tageszeitung «Die Tat». Diese wurde ebenfalls 1936 von Gottfried Duttweiler gegründet und 1977 in ein Boulevardblatt umgewandelt. Und «Die Tat» beteiligte sich in diesem Herbst 1969 «tatkräftig» an der Hetze gegen homosexuelle Männer.
Aus «Die Tat» vom 26. September 1969: «Das schweizerische Volksempfinden ist noch gesund: Der echte Mann, das ist der Harte, Starke, wenig Gefühlvolle. Und die «anderen»? Sie sind weich, schwach, bewegen sich mit schwankenden Hüften, sprechen mit hoher Stimme, ihre Art ist abstossend».
Doch die Versammlung des Landesrings am Abend des 29. Oktober 1969 brachte viele «Tat»-Lesende dazu, Leserbriefe an die Redaktion zu schreiben. Eine Auswahl veröffentlichte die Zeitung in ihrer Ausgabe vom 8. November 1969 unter dem Titel «Die Geister, die ich rief». Diesmal kamen fast ausschliesslich Betroffene zum Zug. Ob die Zeitung gemerkt hatte, dass der Wind sich zu drehen begann? Im Newsletter von schwulengeschichte.ch steht abschliessend: «Sicher fanden zunehmend viele von uns den Mut – mit der entsprechenden Wut im Bauch – herauszutreten, die eigene Meinung zu sagen und sich dafür zu exponieren. ‹Coming-out› wurde viel später zum Begriff, aber hier handelte es sich erstmals in unserem Land um mehrere, die das taten. Und es wirkte ansteckend.»
Die beiden Täter wurden durch das Bezirksgericht Zürich zur maximal möglichen Strafe (Einschliessung bis zur Volljährigkeit) verurteilt. Volljährig wurde mensch damals in der Schweiz erst mit 20.
Quellen: schwulengeschichte.ch und e‑newspaperarchiv.ch