Thema der aktuellen Ausgabe der HABinfo ist «Norm». Gemäss Wikipedia komme der Begriff ursprünglich aus dem lateinischen «Norma» und stehe für «Richtschnur», «Massstab» oder «Vorschrift».
Eine Norm beispielsweise ist die DIN-Norm. So ist ein A4-Blatt haargenau normiert und 210 x 297 Millimeter gross. Eine weitere Norm ist die «Rassismus-Strafnorm», die soeben mit dem Diskriminierungsschutz aufgrund der sexuellen Orientierung erweitert wurde. Und diese Erweiterung der Norm passt der EDU und der JSVP gar nicht – sie haben das Referendum ergriffen. Die Meinungsfreiheit sei in Gefahr! Christen, die mit Bezug auf das Evangelium nicht der Meinung sind, dass Homosexualität «völlig normal» sei, würde die erweiterte Strafnorm ein Maulkorb verpassen.
Können oder müssen aber auch Menschen der Norm entsprechen? Ist Ziel unserer LGBTIQ*-Bewegung schlussendlich, der Norm zu entsprechen? Und welcher Norm eigentlich? HAB-Mitglied und SP-Politiker Szabolcs Mihalyi bringt diese Frage auf meine Anfrage hin auf den Punkt: «Norm ist, was die Mehrheit macht. Das muss weder falsch noch richtig sein und soll deshalb auch nicht der Massstab sein.» … Und wer sind «wir»? Und wer sind die «anderen»?
Wir und die anderen
Was bedeutet «Norm»? Ich habe für die HABinfo bei verschiedenen Menschen nachgefragt. So sagt die Berner Stadträtin Tabea Rai, dass die Norm etwas sei, das von der «sogenannten Gesellschaft» definiert werde. Und Normen seien, meint Mia Willener vom GAYRADIO, «etwas vom Menschen Geschaffenes und somit eigentlich etwas Unnatürliches». Norm ist «alles, was standardisiert ist – im Guten wie im Schlechten», sagt HAB-Vorstandsmitglied Max Krieg.
Norm könne auch eine Abkürzung von «normal» sein, ist sich Hans Peter Hardmeier von der HAB-Politgruppe sicher. Für ihn sei jede Lebensweise Norm oder eben normal: «Jeder Mensch hat seine eigenen Bedürfnisse und die soll er auch leben können, damit er glücklich werden kann». Dabei gebe es «leider noch immer viele Menschen, die glauben uns sagen zu müssen, was Norm ist und was nicht». Doch, relativiert Hans Peter seine Aussage, wäre das Zusammenleben auf unserem Planeten ohne Normen noch chaotischer: «Da haben Normen ihre Berechtigung, aber niemals beim Menschen als Individuum mit seinen Gefühlen und sexuellen sowie körperlichen Bedürfnissen».
Es geht um gleiche Rechte
Gemäss Statuten setzten sich die HAB dafür ein, dass LGBT+Menschen in unserer Gesellschaft gleichberechtigt und ohne Angst leben können. Zudem fördern und unterstützen wir ein selbst bewusstes, offenes Auftreten von LGBT+Menschen in all ihren Lebensbereichen. Das sind also wir! Wir, die um gleiche Rechte kämpfen!
Wer ist «wir»?
Wir und unsere Vereine – wie eben auch die HAB – haben sich in den letzten Jahren verändert. Heute sind wir LGBT. Oder sind wir LGBTIQ*? Gibt es überhaupt genug Buchstaben, um «wir» zu definieren? Und können wir uns mit dieser Aneinanderreihung von Buchstaben identifizieren?
Zum Jahresanfang schrieb Dirk Ludigs im Berliner Stadtmagazin «Siegessäule», dass keine Buchstabenkombination jemals der Wirklichkeit gerecht werden könne: «Sexualität, Geschlecht und Körper sind so vielfältig und fluide und kulturell geprägt, dass jeden Morgen eine neue Identität wach werden kann, die zu Recht das Gefühl hat, der Buchstabenzug sei ohne sie abgefahren».
Der Geist der Gemeinschaft
Zudem bleibe die Buchstabensuppe «künstlich», sie stelle keine emotionale Beziehung her, ist sich Dirk Ludigs sicher: «Keines der Buchstabenmonster hat je geschafft, wofür sie mal erfunden wurden: einen Geist der Gemeinschaft im Kampf gegen die Diskriminierungen durch eine Mehrheitsgesellschaft zu wecken». Viel mehr führe ihr fröhliches Wuchern und Wachsen zu einem zunehmend lähmenden Gefühl der Zersplitterung. Die Buchstabensuppe mache es Gegner*innen und Skeptiker*innen auch viel zu leicht zu behaupten, es gehe nicht um gleiche Rechte, sondern um Sonderrechte.
«Eine Reihung von Grossbuchstaben bleibt so seelenlos, wie sie unaussprechlich bleibt. Sie meint vielleicht eine Koalition, aber sie meint niemals mich.»
Als Alternative zur Buchstabensuppe biete sich, da bin auch ich mir sicher, ein «schönes, einfaches Wort» an – und das ist «queer». Queer ersetze nicht einen einzelnen Buchstaben, sondern gleich alle zusammen, schreibt Kolumnist Dirk Ludigs: «Wir alle können unter dem Mantel des Queerseins weiterhin sein, was wir wollen: schwul, lesbisch, trans, bisexuell, inter, non-binary, queer oder ein Einhorn».
Queer: Sammelbegriff für das, was anders ist als die Norm
Individuell benennen wir Schwulsein weiterhin als schwul, Transsein weiterhin als trans … Aber wenn es um uns alle geht, die wir als abweichend von der Sexual- und Geschlechternorm wahrgenommen werden, benennen wir uns doch am Besten mit dem Sammelbegriff «queer».
Text veröffentlicht in der HABinfo vom März/April 2019 zum Thema «Die Norm»