Heute ist der 12. März 2041. Ich werde heute 80 Jahre alt – und morgen ist meine Lebenszeit abgelaufen. Um 8 Uhr werden mir zwei Ärzte der Sektion «Lebensalter» des Gesundheitsamtes eine Spritze geben, die mich sanft ins Jenseits befördert.
Als Schwuler ist meine Berechtigung für eine Rente abgelaufen. Da ich nie Kinder hatte, muss Vater Staat sich um mich kümmern – und die haben nur finanzielle Mittel für Leute wie mich bis 80 …
Doch heute will ich nochmals feiern. Es gibt in der Zwischenzeit wieder eine kleine Bar für Schwule. Diese befindet sich in einem Keller in der Berner Matte. Die Einrichtung besteht aus Sperrmüll, der von jungen, aufmüpfigen Schwulen liebevoll dekoriert wird und daher wenigstens etwas Gemütlichkeit ausstrahlt.
Ich betrete die Bar durch einen versteckten Eingang von der Aare her. Beim Eingang vorn an der Strasse stehen nämlich meist Polizisten, die kontrollieren, fotografieren und registrieren. Offensichtlich führt der Staat ein Register, damit auch wirklich alle Homos dieser Welt bekannt sind. Ich muss schmunzeln, die Geschichte wiederholt sich. Habe ich doch im letzten Jahrhundert die Abschaffung eines ähnlichen Registers miterlebt.
In der Bar setze ich mich an einen kleinen Tisch. Es geht nicht lange und ein junger Schwuler setzt sich zu mir, stellt sich mit Kevin vor. Ich nenne ihm meinen richtigen Namen, ein Luxus, der sich in dieser Zeit nur die Alten leisten können.
Ich lade Kevin zu einem Glas Prosecco ein. Während wir am Glas nippen, nimmt Kevin plötzlich ein Flugblatt aus der Tasche, das er mir stolz überreicht. Da steht mit dicken Lettern drauf: «Homos aller Länder vereinigt euch!». Er wolle mit ein paar Freunden eine Homogruppe gründen. Sie werde wohl «Homosexuelle Gruppe Bern» heissen. Aber der definitive Namen werde erst an der morgigen Gründungsversammlung bestimmt. Ich gucke Kevin ganz entgeistert an – soll ich lachen oder losheulen?
Ich erkläre Kevin, dass bereits 1972 in Bern ein Verein mit fast gleichem Namen gegründet wurde, aber kurz nach dem 50. Jubiläum verboten wurde. Er staunt, als ich ihm sage, dass der Verein sogar von der Stadt Bern finanzielle Unterstützung erhalten habe und wir uns jeweils am Mittwochabend in einem Quartiertreffpunkt im Berner Weissenbühl zum Essen und Plaudern trafen.
Kevin zeigt sich sehr interessiert und so beginne ich zu erzählen, wie es damals war. Ich erkläre ihm, dass Schwule und Lesben früher ihre Partnerschaften auf dem Standesamt eintragen lassen konnten und so ähnliche Rechte wie die Heterosexuellen hatten. Er staunt darüber, dass wir sogar um ein Adoptionsrecht kämpften, das Wort «Regenbogenfamilie» hatte er vorher noch nie gehört.
Ich bestelle für uns Beide eine zweite Runde Prosecco. Kevin bekommt ganz grosse Augen, als ich ihm sage, dass es überall in der Schweiz lesbischwule Vereine gab. Ich erzähle von der Lesbenorganisation Schweiz, von Pink Cross, von schwulen Sportvereinen, von Schulprojekten wie ABQ, von einem Verein von Eltern von Schwulen und Lesben. Ich plaudere über eine eigene Radiosendung, wo ich mich jahrelang engagierte und wir sogar schwule Politiker interviewten.
Plötzlich fragt mich Kevin, warum diese Vereine verschwunden seien, das Partnerschaftsgesetz wieder abgeschafft wurde, wir uns wieder verstecken mussten? Ganz einfach, wir hatten wohl in den Augen vieler Lesben und Schwulen viel erreicht, konnten uns offen zeigen, ja sogar auf der Strasse Küsse austauschen, dass sich kein Schwuler, keine Lesbe mehr in einem Verein engagieren wollte. Die Organisationen lösten sich auf und verschwanden. Noch ein paar Jahre vorher – 2011 – vermeldeten die Lesbenorganisation und Pink Cross stolz, dass an den Parlamentswahlen mehr als ein Viertel der Gewählten sich als lesben‐ oder schwulenfreundlich bezeichneten.
Fast gleichzeitig gewann eine christliche Partei die Oberhand. In der Bundesverfassung wurde aufgrund einer Initiative die Ehe zwischen Mann und Frau definiert. Schwule und Lesben mussten von nun an heterosexuelle Paare finanzieren, Familien wurden von den Steuern befreit.
Auch galten Schwule und Lesben plötzlich wieder als krank, da mit Statistiken bewiesen wurde, dass gerade junge Schwule mehr Selbstmord machten und ihre psychische und körperliche Gesundheit im Vergleich zu heterosexuellen Jugendlichen angeschlagener sei. Das Argument, dass aber gerade die heterosexuelle Gesellschaft Schwule und Lesben krank mache, wurde nicht mehr gehört – schliesslich hatten wir ja unsere Organisationen aufgelöst.
Wohnungen kriegten nur noch verheiratete Männer und Frauen mit Kindern oder Einzelpersonen. Schwule und Lesben mussten sich wieder verstecken und hoffen, dass die Nachbarn nicht merkten, wer zu Besuch kommt. Schwule Lehrer oder lesbische Lehrerinnen bekamen die Kündigung, die Angst, dass sie Kinder manipulieren könnten war zu gross. Aber auch in anderen Jobs wurde es schwierig, eine Anstellung zu bekommen. «Weibische» Männer oder «männliche» Frauen waren unerwünscht, «schwul» als Schimpfwort offiziell im Duden aufgenommen.
Kevin schüttelt den Kopf und meint, dass wir alten Schwulen und Lesben unsere Zukunft fahrlässig aufs Spiel gesetzt hätten, in dem wir meinten, alles erreicht zu haben.
Ich nicke und schaue auf die Uhr! In ein paar Stunden wird meine Lebenszeit abgelaufen sein. Ich stehe auf, gebe Kevin einen scheuen Kuss auf die Backe und sage ihm, es wird sicher besser und laufe nach Hause. In meiner winzigen Wohnung lege ich mich aufs Bett und denke an meine Freunde von früher und an Kevin und seinen Elan. Ich döse ein – und plötzlich klingelt es an meiner Wohnungstür. Ich schrecke hoch und weiss, es ist vorbei, endlich vorbei!
Doch ich merke, dass es nur ein schrecklicher Traum war, mein Wecker klingelt – ich noch nicht 80 bin und ich am Abend eine HAB-Vorstandssitzung habe …
Ein paar Stunden später. Die HAB‐Vorstandssitzung ist vorbei. Ich liege zu Hause auf dem Bett und kann nicht einschlafen. Meine Gedanken sind beim Traum von letzter Nacht. Warum bloss habe ich solche Albträume?
Diese Geschichte hatte ich im Oktober 2011 geschrieben – kurz nachdem ich ein Mail von Mitgliedern des Schulprojekts ABQ gelesen hatte. Sie schrieben: «Sind uns unsere Rechte wirklich einfach egal?».
Auslöser für diese Frage war für die Leute von ABQ die Aktivitäten rund um den damaligen Coming-out-Day. Pink Cross, LOS und einige andere Gruppierungen hatten gemeinsam eine PostIt-Aktion organisiert. Und die ABQ-Leute waren erstaunt über die geringe Zahl von Helferinnen und Helfern. «Anscheinend war leider niemand motiviert, bei einer so wichtigen Aktion wie dem Coming-out-Day mitzuwirken», schrieben sie enttäuscht. Und sie fragten sich: «Sind wir wirklich schon an dem Punkt angelangt, an welchem wir nicht mehr auf uns aufmerksam machen und für unsere Rechte kämpfen müssen?».
In der Zwischenzeit wurde in Russland «Homo-Propaganda» verboten – um Kinder und Jugendliche zu schützen – und mein Albtraum wurde irgendwie von der Realität eingeholt …