Wo und wann Widerspruch wichtig ist

Ich habe zwei Seelen in meiner Brust: Wenn irgendwelche Wirrköpfe irgendwo in den Weiten des Internets ihre hasserfüllten Kommentare abgeben, kann ich ja (meistens) darüber hinwegsehen. Wenn aber Politiker*innen und Publizistin*innen dafür ihre Plattformen benutzen, wird es schwierig, dies unbeachtet und unkommentiert zu lassen – was zwar eigentlich besser wäre, als ihnen noch eine weitere Bühne zu bieten. Aber irgendwie machen wir uns aber auch mitschuldig, wenn wir nicht widersprechen.

Vor mir liegen zwei Artikel aus der aktuellen «Schweizerzeit». Die von «Schweizerzeit»-Chefredaktor Anian Liebrand – der auch Mitglied der Geschäftsleitung der EDU Schweiz ist – behandelten Themen: der «Pride Month» und das «dritte Geschlecht». Ich lese: «Der Juni hat begonnen – und die Regenbogen-Armada zieht erneut in die Schlacht». Stimmt! Gedenken wir queeren Menschen doch mit unseren Prides dem Aufstand von Juni 1969 in New York. Die tagelangen Auseinandersetzungen auf den Strassen war der Höhepunkt von systematischen Diskriminierungen und Stigmatisierungen: Eine grosse Zahl Unzufriedener reagierte mit Gegengewalt auf die Repressionen und Ausgrenzungen. Die Stonewall-Unruhen diente aber auch der Solidarisierung untereinander – dadurch entstand in der Community eine Gruppenidentität. Erst dadurch konnte diese auf fehlende Gerechtigkeit hinweisen und sozialen Einfluss gewinnen. Das Zeitalter der modernen queeren Bewegung begann.

Da tönt es wie ein Hohn, wenn Anian Liebrand – der sich nach eigenen Angaben sehr für Geschichte interessiert – in der «Schweizerzeit» behauptet, dass hinter den Prides ein Kulturkampf stehe, «der die binäre gesellschaftliche Ordnung – auf christlichem Fundament, basierend auf dem sich ergänzenden Miteinander von Frau und Mann – grundlegend umwälzen will»: «Es geht um ein radikales politisches Programm, das allen das Recht auf alles gewähren will.»

In der Rubrik «Spalte rechts» in der «Schweizerzeit» erklärt Anian Liebrand – der auch Chefredaktor der Zeitschrift «Pro Militia» ist –, was er vom «dritten Geschlecht» hält – und es wird abenteuerlich. Er holt aber noch etwas aus und schreibt, dass es «nur eine Frage der Zeit» gewesen sei, bis die queere Bewegung – notabene nach der gewonnenen Abstimmung über die Einführung der «Ehe für alle» – neue, «noch weiter gehende Forderungen stellt». Ich zitiere: «Der nächste Kampf gilt der amtlichen Einführung eines sog. ‹dritten Geschlechts›». Dafür habe sich Nemo als Galionsfigur einspannen lassen. «Dies, wie immer, wenn sich die LGBT-Lobby inszeniert, unter mächtigem Support der Mainstream-Medien.» «Was sollen zum Beispiel», studiert Anian Liebrand – der nach eigenen Angaben verlobt ist – in seiner Kolumne, «die Hürden und Voraussetzungen für einen Geschlechtswechsel hin zum ‹dritten Geschlecht› sein?». Könne das «jede und jeder einfach so» entscheiden?

Diese Kampagne rund um die nicht-binäre Person Nemo dürfe aber nicht als «realitätsfremde Schaumschlägerei einer de facto längst nicht mehr benachteiligten, aber lauten Minderheit» abgehakt werden. Die queere Lobby habe nach wie vor Hochkonjunktur. Anian Liebrand schreibt – er hat Jahrgang 1989 – am Schluss in seiner «Spalte rechts» trotzig: «Trotzdem – oder gerade erst recht – nehmen wir den Kampf auf».

So geschrieben, so getan: Kämpferisch unterstützt Anian Liebrand – der u.a. auch als Web Publisher SIZ ausgebildet ist – die von patriotischen Kreisen auf Social Media ausgerufene Kampagne #stolzmonat. Patriot*innen färben ihre Profilbilder statt mit dem Regenbogen mit ihren Landesfarben ein und «bekennen ihren Stolz auf die Heimat, auf die Tradition, auf die eigene Identität». Quasi grad so, wie das Nemo bei der Fahnenparade vor dem ESC machte und stolz die Flagge der nicht-binären Menschen trug.

«Wir müssen aufhören, zu glauben, die Nazis mit Fakten entlarven zu können und sie permanent einzuladen und zu zitieren. Wir sollten anfangen, Ideen, Hoffnung und Visionen für mehr Gerechtigkeit und Frieden zu verbreiten.»
Raul Krauthausen, Aktivist und Autor, der sich mit den Sozialhelden e.V. für Menschen mit Behinderung einsetzt

One Reply to “Wo und wann Widerspruch wichtig ist”

  1. Wie lange es wohl dauert, bis die EDU genug Abstimmungen verloren hat? Die Basis unserer Gesellschaft sind hoffentlich Freiheit und Menschenrechte und nicht “Binarität”

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