Ein paar Tage nach meinem 60. Geburtstag starb mein Vater – rund sechs Monate vor seinem 90. Und die letzten sechs Monate seines Lebens verbrachte er im Pflegeheim.
Das halbe Jahr im Pflegeheim empfand ich persönlich als die Zeit des Abschiednehmens. Und wohl auch mein Vater erlebte dieses halbe Jahr so.
Dann kam der definitive Abschied: Nicht während den 45 Minuten auf dem Friedhof, sondern während der Räumung von Vaters Wohnung. Und ich kam dabei ins Grübeln: Was bleibt nach dem Tod? Lohnt sich die Mühe eigentlich, die das Leben von uns Tag für Tag verlangt?
Falls ich auch 90 werden sollte, habe ich bereits zwei Drittel meines Lebens hinter mir. Ob ich tatsächlich 90 werde und diese Rechnung aufgeht? Immerhin starb meine Mutter mit 66 …
Mit 30 schaffte ich mein Coming-out als schwuler Mann. Und seither widmete ich mich dem queeren Aktivismus. Hat sich dieser Aktivismus gelohnt? Habe ich da nicht zu viel Energie reingesteckt und habe deshalb «was» in meinem Leben verpasst?
Sechs Monate nach meinem 60. Geburtstag und dem Tod meines Vaters habe ich mich in seiner ehemaligen Wohnung eingerichtet. Sein Nest ist jetzt mein Nest, in dem ich mich wohl fühle und zuhause bin – und ich habe langsam wieder Zeit!
Alles gut?
In einer Woche ist Montag – der Tag nach der gewonnenen Abstimmung, die Zivilehe wird für uns gleichgeschlechtlich Liebenden geöffnet. Den Abstimmungskampf habe ich diesmal nur aus der Ferne beobachtet (und wir werden trotzdem gewinnen).
Die Öffnung der Zivilehe am 26. September 2021 an der Urne wird für uns ein weiterer Meilenstein sein. Ob für uns Schwule und Lesben damit wirklich jetzt «alles gut» ist, wird wohl erst die Zukunft zeigen. Ich bin allerdings überzeugt, dass gerade bei der Generation von queeren Menschen in meinem Alter nicht «alles gut» ist. Vor 50 Jahren erwachte mit der Gründung von homosexuellen Arbeitsgruppen in der Schweiz die Emanzipation von Schwulen und Lesben. Heute ist diese Generation 70 oder älter! Sind ihre Wünsche von damals in Erfüllung gegangen? Ist die queere Generation 60plus glücklich?
Seit März gehöre auch ich zu dieser Generation! Und damit ich mich als Schwuler auch weiterhin «out and proud» fühlen kann, werde ich mich in Zukunft als queerer Aktivist und Blogger vor allem für die ältere Generation von queeren Menschen engagieren. Ich bin i.O. wie ich bin. Und du auch!